Die Böge

heute: Wirtshaus Friedrichsruh

 

Geschichtliches:

Kaiser Wilhelm II. war Staatsoberhaupt in Deutschland, Und Bernhard von Bülow war Reichskanzler. In St. Louis, im amerikanischen Bundesstaat Missouri, fanden die Olympischen Sommerspiele statt, bei denen u.a. Sackhüpfen einmal und nie wieder als olympische Disziplin in die Wertung kam. Aufsehen in Fußballkreisen erregte die Gründung des Weltfußballverbandes (FIFA) in Paris. In Deutschland trat das Kinderschutzgesetz in Kraft, das die Arbeit in allen Bereichen für unter 12jährige verbot. Es waren, weltpolitisch gesehen, also eher ruhige Zeiten, als die junge Lina Bög 1904 auf der Wangener Höhe einen Flaschenbierausschank für die hart arbeitenden Wengerter und Obstbauern eröffnete. Man erzählt, es sei anfangs wohl nur ein kleiner Kiosk gewesen, dessen baurechtliche Genehmigung bis heute auf ihren behördlichen Segen wartet. Die große Nachfrage nach Linas Flaschenbier erzwang einen großzügigen Ausbau des Kiosks zu einem stattlichen Gebäude. Immer noch ohne baurechtliche Genehmigung stand die Friedrichsruh stolz am Rande des steil abfallenden Hanges im Gewann Stubenweinbergen. Dem verblüfft von unten hochschauenden Wangenern musste sie geradezu als Trutzburg erscheinen. Der Architekt, Linas Bruder Friedrich Bög, gab der Friedrichsruh damals nicht nur ihr Aussehen, sondern auch den Namen. Aber bis in die späten 70er des vergangenen Jahrhunderts war das Lokal im Volksmund „Die Böge“. Ein Ausdruck, der von einigen ganz alten Zeitzeugen heute noch für das Wirtshaus F. angewandt wird!

1927 expandierte das Wirtschäftle weiter und bekam den flachen Anbau, in welchem sich heute der Hauptraum des Wirtshauses befindet. Die Getränke wurden übrigens im Leiterwägele von Wangen unten auf die Höhe gezogen! Autos waren noch recht unüblich, weswegen neben der östlichen Terrasse (damals noch ohne Pergola) der eigentliche Biergarten auf dem heutigen Parkplatz gelegen war.

Den gepflasterten Feldweg konnten Gäste und Personal damals noch ganz gelassen und gefahrlos überqueren! Während des II. Weltkrieges befand sich auf der Wangener Höhe eine Flakstellung mit sechs Kanonen, um den feindlichen Bombern, die es auf den Daimler in Untertürkheim abgesehen hatten, den Anflug zu erschweren. Unterm Dach des Wirtshauses befand sich die nötige Telefonzentrale. Obwohl so manche dem Daimler geltende Bombe ihr Ziel verfehlte, blieb die Friedrichsruh verschont. Nicht jedoch die umliegenden Weinberge. Einheimische berichten, das man noch heute auf der Wangener Seite, dem Spittelberg, so manchen Geländeabbruch als ehemaligen Bombeneinschlag ausmachen kann. Nicht zuletzt diese Wunden und auch die etwas qualitätsmindernde Nordlage der Weinberge führten dazu, dass sich die Anbaufläche für Wein drastisch reduzierte, da die Weinberge nach und nach in Obstgärten umgewandelt wurden.

Dies änderte aber nichts am Durst der Obstbauern! Es wird erzählt, das so mancher mit Krebe (Tragekorb) und Hacke bewehrt sich an den steilen Aufstieg machte. Dabei seine bessere Hälfte im Glauben ließ einen harten Arbeitstag am Stückle zu verbringen, stattdessen aber das Arbeitsgerät vor die Böge stellte und in selbige bis zum Ende des harten Arbeitstages einkehrte. Der eine oder andere ältere Wangener weiß auch schmunzelnd zu erzählen, dass so manche zechbedingte Zahlungsunfähigkeit durch spontane Immobiliengeschäfte schnell behoben wurde. Kurzfristig wechselte da eine Obstwiese in der Böge seinen Besitzer. Und schon war der wieder liquid. Immerhin gingen in der Friedrichsruh an guten Tagen gut 300 Glas Bier über die Theke. Logistisch nicht mehr im Leiterwägele, sondern standesgemäß vom Dinkelacker vorgefahren!

Die Wirtin Lina Bög wurde in späteren Jahren von einer ihrer sieben Töchter unterstützt. Die hieß auch Lina und führte das Lokal bis zu ihrem Tode Anfang der siebziger Jahre. Ein anderer Zeitzeuge erzählte mir, das irgendwann in den sechziger Jahren die Böge längere Zeit geschlossen war. Um die Durststrecke zu überbrücken, stellte die Nachbarin Frieda Epple ihr Gartenhäusle zur Verfügung. Gerade mal sechs Personen hatten dort Platz. Es ging aber dermaßen lustig zu, das die Frieda Epple irgendwann beschloss die Sache offiziell und professionell zu machen. Die Laube wurde vergrößert und vorne am Brunnen (heute Wendeplatte), ein Schild angebracht:

Wanderer sei klug und weise
erquicke dich bei Trank und Speise
im Vesperstüble bei Frau Frieda
denn sowas war noch nie da.

Fortan hieß der Laden Tante Frieda. Ende der sechziger heiratete die Frieda und übergab den Laden an den radrennbegeisterten Otto Keilbach. Der unterstützte den Wangener Radrennfahrer Pit Glemser und veranstaltete von Wangen über den Höhenweg und zurück so eine Art Bergrennen. Heute würde man ihn einen Sponsor nennen. Tante Frieda hieß ab sofort Onkel Otto. Leider ging es dem Otto Keilbach wohl nicht so ganz gut: Er machte seinem Leben relativ kurz nach der Umbenennung zu Onkel Otto ein Ende. Sein Nachbar fand ihn eines morgens tot am Birnbaum hängend. Frieda Epple übernahm dann noch einmal zusammen mit ihrem Mann das Wirtschäftle. Der nächste Betreiber war dann der legendäre Adolf Rotter. Ein Holzbauingenieur, der den Onkel Otto zu dem machte, was er heute noch im Gedächtnis der Leute ist: eine Gartenwirtschaft mit folkloristischem Touch, für Rentner, Wanderer und Frischlufttrinker. Das östliche Pendant zum ebenso legendären Kabaho (Katzenbacher Hof) im Süden von Stuttgart.

Zuvor hatte er allerdings seine innenarchitektonischen Spuren in der Friedrichsruh hinterlassen. Anfang der siebziger musste er hier mal Pächter gewesen sein und das viele Holz in den Laden gebracht haben. (Einer?) sein(er) Nachfolger war der Neckarblickwirt Dieter Fahrian. Dieser machte Anfang der siebziger unter dem Namen Nussknacker aus der guten alten Böge eine Diskothek für Vorortrowdies. Die Leitung der Disco hatte seine Frau Anita, und immer wenn es „Stress“ in der Disco gab, rief Anita ihn im Neckarblick an und der damals noch nicht so beleibte Dieter sprintete durch die Wandelgänge der Wangener Höhe rüber zum Nussknacker um die Sache zu „klären“…. Ungefähr im Jahre 1976 oder 77 löste ihn der Heizungsingenieur Jürgen Weikamp als Betreiber ab. Der legte großen Wert auf Grillen und Lagerfeuerromantik. Er hatte vorher die Disco im Kemnater Hof betrieben. Die Kundschaft war der Dieters sehr ähnlich. Es gab Erbseneintopf überm offenen Lagerfeuer und „Selber grillen“ für alle…. Dazu einen Whiskey Safe im Lokal. Hier konnte man seine am Wochenende für ungefähr DM 80.-erworbene Jacky oder Johnnieflasche zum weiteren Verzehr wegschließen!! Die Disco Technik bestand aus einer Schwarzlichtröhre 30 cm und einer Discokugel. Die Öffnungszeiten waren den Ausgehgewohnheiten der 70er Jahre angepasst: man soff und tanzte von Donnerstag bis Sonntag. Den Rest der Woche hielt man den Nussknacker geschlossen.

Irgendwo hier in dieser Zeit beschließt der Nellinger Motorjournalist Rolf Seufferle seinen Wohnsitz in einem ausgebauten Ziegenstall auf der Wangener Höhe einzunehmen. Sein Kumpel ist der Motorradjournalist Franz Schermer. Beide sind zu dieser Zeit geschäftlich sehr verbunden. Beide sind auch Stammgäste in der Innenstadtkneipe Rogers Kiste. Dieser Laden bricht allabendlich aus allen Nähten. Es sind die Studenten der Fachhochschule für Medien, das Stuttgarter Staatsballett und die Motorpresse Stuttgart, die die Kneipe zum Bersten bringen. Die zwei Angestellten Roger & Atze sehen es nicht länger ein, ihre Gesundheit und Popularität weiter für „Schmales“ einem strengen Chef zur Verfügung zu stellen. Sie wollen sich selbständig machen. Über den Ziegenstallbewohner Seufferle erfährt Franz Schermer von den Wechselwünschen des Jürgen Weikamp und fädelt ein Übernahmegespräch ein. Für die damals übliche Ablösesumme von DM 25.000 geht der Nussknacker an Roger & Atze. Beim Notar werden sie um die für sie extrem unübliche Morgenstunde gefragt, wie denn der Laden zukünftig heißen solle. In Anbetracht der frühen Stunde entschieden sie sich für den Namen Rogers Ruh, weil der Notar meinte, früher hieße das Friedrichsruh. Und Ruhe war wohl das Wichtigste, was beide wollten, morgens um 10!!!

Rogers Ruh entwickelte sich in rasantem Tempo zu einer echten In Location. Weniger für die Innenstädtler. Mehr für die Leute aus Birkach, Sillenbuch Degerloch, Gablenberg und Gänsheide, Untertürkheim und natürlich Wangen. Im Sommer auch für die Stuttgarter, denn Freiluftplätze im Kessel waren rar und die Luft auf der Wangener Höhe deutlich besser. Ist sie heute noch!! Der damalige Hausbesitzer, der Betreiber der Mylord Bar im Städtle, hatte das Haus beim Zocken von seinem Getränkelieferanten gewonnen. Entsprechend war sein Engagement bei der dringend nötigen Gebäudesanierung und so mussten wir 1983 ganz schnell wieder aufhören, bevor das Gebäude über uns zusammenstürzte. Ich war damals mächtig traurig und konnte mich gottseidank ein Jahr später mit der Wiedereröffnung von Rogers Kiste trösten. Der Neue hieß Wico, brachte zwei Pferde mit, klebte unsachgemäss Styropor an zwei Aussenwände, ersetzte die wundervollen Sprossenfenster durch zweckmässige neue Fenster und verkaufte zwei oder drei Jahre später an den Rogers Ruh Stammgast und Wangener Ureinwohner Tom Riesinger.

1990 kam die unter altem Namen firmierende Friedrichsruh durch Tom zum Verkauf. Mein als Psychologiestudent in der Kiste jobbender Aushilfskellner Hotte kaufte den maroden Schuppen (das konnte man sich als Aushilfe in der Kiste damals leisten!! ;-))) ) und führte den Laden 19 Jahre lang zusammen mit seiner Frau Ute sehr erfolgreich.

In dieser Zeit hat der Hotte mit seinem Vater Rolf das Untergeschoss der Friedrichsruh richtig gut den gastronomischen Bedürfnissen durch wichtige Sanierungen angepasst. Zu meiner Rogers Ruh Zeit musste man noch in Gummistiefeln zum Bieranstechen gehen!!! Oben im Lokal blieb alles beim Alten. Der Wico hatte, und das war ein echter Einschnitt im gastronomischen Leben der Friedrichsruh, die zwei Ausgänge zum Garten und zur Ostterrasse geschaffen. Eine echt gute Maßnahme, denn früher musste der komplette Gartenausschank über die legendäre Schnapsbar im Garten abgewickelt werden. Nach 19 Jahren wurden Hotte & Ute müde! Die beiden wollten nicht mehr. Der Laden wurde verpachtet, und jetzt mache ich es kurz, die Sache wurde wegen gewisser Unzulänglichkeiten ganz schnell wieder beendet. Heute sprechen wir rückblickend immer von den „Türkischen Wochen“. Da ich im Spätsommer 2009 leicht nostalgisch immer wieder um das Haus schlich, rief mich Hotte eines Tages mal rein und fragte mich ob ich nicht Bock hätte mit ihm zusammen die Friedrichsruh zu machen. Joah!! Hatte ich.

Und nun wird diese Männerwirtschaft Wirtshaus Friedrichsruh von zwei ambitionierten, Neuem immer aufgeschlossen agierenden Altkneipern geführt, die sich alle Mühe geben Euch ein gastronomisches Zuhause zu geben.